Öffentlich-Rechtliche: Götterdämmerung der Arroganz im Norden

Bei den öffentlich-rechtlichen Sendern gärt es. Immer mehr Journalisten melden politische Missstände. Ein besonders krasser Fall erschüttert den NDR.

Daniel Günther (CDU) mit Julia Stein vom NDR
Daniel Günther (CDU) mit Julia Stein vom NDRImago/penofoto

Eigentlich ist der Anrufer ein ruhiger, besonnener Mann. Doch diesmal spricht er schnell, ist hörbar erregt: „Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Wir Journalisten müssen uns jetzt wehren. Es muss ein Ende der politischen Gängelung geben.“ Der Anrufer ist Redakteur beim öffentlich-rechtlichen Norddeutschen Rundfunk (NDR). Er beklagt wie viele seit Jahren, dass in den Sendern die journalistische Arbeit von politischen Interessen beeinträchtigt wird. Auch beim RBB, dem WDR und dem Deutschlandfunk bestätigen Journalisten, dass massiv Einfluss auf die Berichterstattung ausgeübt werde. Eine Journalistin berichtet von einer Dokumentation für das ZDF und Arte, die so massiv umgearbeitet wurde, dass die angestrebte Neutralität gänzlich verschwunden und der Film zu einer „Propaganda-Show“ umgestaltet war. Der Autor zog am Ende entnervt seinen Namen zurück, weil „seine journalistische Arbeit zur Unkenntlichkeit entstellt worden ist“. Er hatte fast zwei Jahre lang an dem Film gearbeitet. Die Berliner Zeitung kennt beide Fassungen des Films.

Auch der aufgebrachte NDR-Kollege am Telefon berichtet davon, dass ein Film von ihm komplett umgeschnitten und sogar synchronisiert worden sei – ohne dass man ihm davon irgendetwas gesagt hätte. Wie viele seine Kollegen spricht der Journalist von einem Klima der Repression und Angst. Journalisten aus den Sendern äußern ihre Kritik kaum jemals mit Namen. Vor allem das System der vielen „freien Mitarbeiter“ begünstigt ein System der journalistischen Gefälligkeiten. Diese sind oft von den Sendern abhängig, weil es kaum noch andere Medien gibt, die sich „Qualitätsjournalismus“ auf die Fahnen geschrieben haben. Genau deswegen sind viele junge Idealisten zu den Öffentlich-Rechtlichen gegangen: „Ich habe den Deutschlandfunk geliebt“, sagt eine Journalistin. Heute macht sie nur noch „politisch unverdächtige“ Sendungen – und schreibt gelegentlich für ein kleines, lokales Medium.

Journalisten verlangen Aufklärung von möglichen Skandalen

Der Fall Patricia Schlesinger hat bei den Sendern jedoch offenkundig ein Erdbeben ausgelöst: Plötzlich melden sich in den Sendern die Journalisten zu Wort und verlangen Aufklärung von möglichen Skandalen. Sie erinnern die Führungsspitze an den öffentlich-rechtlichen Auftrag, der kritischen, unabhängigen und staatsfernen Journalismus nicht nur als Möglichkeit, sondern als Kerngeschäft formuliert hat. Die Journalisten in den Sendern sind vor allem aufgebracht, weil sie in der Leitungsebene keinen Willen zur Aufklärung sehen. Besonders empört hat viele der Versuch aller anderen Sender, den RBB als „schwarzes Schaf“ darzustellen. So lobte sich NDR-Intendant Joachim Knuth vor einigen Tagen vor den Mitarbeitern selbst und sagte, er habe sein Intendantenzimmer lediglich streichen lassen. Sein Dienstwagen habe auch keine Massagesitze, versicherte Knuth, um die Belegschaft zu beruhigen. Doch den Journalisten in den Sendern ist es mittlerweile egal, dass auch WDR-Intendant Tom Buhrow einräumte, einen Luxuswagen vom Sender gestellt bekommen zu haben, nämlich einen BMW 7er. Natürlich ärgert es die Journalisten, wenn Buhrow dann dem Kölner Stadtanzeiger über den auch bei ihm gefundenen Massagesitz sagt: „Ich brauche ihn nicht, ich habe ihn auch noch nie benutzt, und ich wusste es noch nicht einmal.“

Was die Journalisten jedoch wirklich umtreibt, ist der Filz zwischen Politik und den öffentlich-rechtlichen Sendern. Hier ist besonders der NDR in Schleswig-Holstein in die Kritik  geraten. Ein vertrauliches Papier des Redaktionsausschusses, das der Berliner Zeitung vorliegt, zeichnet ein unerfreuliches Bild vom journalistischen Innenleben. Nachdem mehrere Redakteure beim Redaktionsausschuss wegen einer „großen Nähe zur Politik in der Abteilung ,Politik und Recherche‘“ protestiert hatten, versuchte die Redaktionsleitung, die engen Kontakte zu „Ministerien, Parteien, Staatsanwaltschaften, zu Anwälten, Lobbygruppen etc.“ als vorteilhaft darzustellen. Politikchefin Julia Stein und der Leiter des Programmbereichs Fernsehen, Norbert Lorentzen, beschieden den aufmüpfigen Redakteuren: „Diese Nähe gefährdet die kritische und unabhängige Berichterstattung nicht. Im Gegenteil: Häufig sichert sie sie und führt zu profunden Kenntnissen sowie inhaltlicher Kompetenz.“ Der Redaktionsausschuss wollte sich mit dieser Erklärung nicht abspeisen lassen und antwortete, man sehe „einen Unterschied zwischen guten Kontakten in allen Bereichen und dem Eindruck, den uns Kollegen und Kolleginnen schildern, es gebe in der Abteilung eine Art Filter“. Demnach berichten die Mitarbeiter, „Berichterstattung werde teilweise verhindert und kritische Informationen werden heruntergespielt“. Autoren würden abgezogen und Beiträge in den Abnahmen massiv verändert.

Redaktionsleitung untersagte Interview mit gefeuertem Minister

Anlass für den Bericht, der aus dem September 2021 stammt, war eine umstrittene Entscheidung der Redaktionsleitung, die per Weisung ein Interview mit dem am 28. April 2020 eben Knall auf Fall gefeuerten Innenminister Grote untersagte. Es ging um die sogenannte Rocker-Affäre, um „mögliches Fehlverhalten von Sicherheitsbehörden und Ermittlungen gegen Polizisten wegen Geheimnisverrats“, wie der Business Insider schreibt, der als erstes Medium von den Vorfällen im NDR berichtete. Grote soll Ministerpräsident Daniel Günther angelogen haben, die Sache eskalierte und wuchs sich zu einer Schlammschlacht in der CDU auf offener Bühne aus. Ein Journalist des NDR hängte sich dran und wollte wissen, was an den Vorwürfen gegen den Ministerpräsidenten dran ist. Zu diesem Zweck wollte er ein Interview mit dem Erzfeind Günthers führen. Doch die Redaktionsleitung stoppte ihn – mit einer bemerkenswerten Begründung: Auf die Nachfrage des NDR-Journalisten, ob das Interview wirklich endgültig abgesagt werden soll , schreibt Norbert Lorentzen in einer E-Mail an den Journalisten: „Ich habe den Sinn infrage gestellt, da wir dann auch mit dem Ministerpräsidenten sprechen müssten. Auf diese Gegenüberstellung der Darstellungen wollte ich verzichten.“ Die Redaktionsleitung vertrat den Standpunkt, ein Interview sei keine Recherche – zumal der Journalist keine handfesten Beweise vorliegen habe, die den Ministerpräsidenten belasten würden.

Den „Rocker-Skandal“ aufgedeckt hat der EU-Parlamentarier Patrick Breyer. Er hält die Entscheidung, das Interview nicht zu führen, für falsch. Breyer sagte der Berliner Zeitung: „Durch die Weisung, kein Interview zu führen, wurde mittelbar die Aufklärung des Rocker-Skandals behindert. Natürlich hätte die kritische Berichterstattung dem Ministerpräsidenten schaden können – wir standen kurz vor einer Landtagswahl.“

Wollte der Programmdirektor den Ministerpräsidenten schützen?

Aus Breyers Sicht ist „der Fall ein alarmierendes Beispiel, wie aus politischen Gründen Einfluss auf die Berichterstattung genommen wurde“. Anfangs habe der NDR über die Rocker-Affäre „ausgezeichnet berichtet, auch mit exklusiven Beiträgen“. Das sei jedoch im Laufe der Zeit immer weniger geworden. Breyer: „Mir ist aufgefallen, dass die Leute, die an dem Thema arbeiteten, immer wieder abgezogen wurden. Schließlich wurde gar nicht mehr berichtet.“ Breyer sagt, er könne sich vorstellen, „dass die Programmverantwortlichen aus eigenem Antrieb so gehandelt haben“. Das sei „vor dem Hintergrund brisant, dass der Funkhaus- und der Fernsehchef CDU-Mitglieder sein sollen“. Breyer: „Es entsteht der Eindruck, dass der Programmdirektor den Ministerpräsidenten schützen wollte.“ Der heutige NDR-Chefredakteur Lorentzen wollte Fragen der Berliner Zeitung zu den Vorwürfen nicht beantworten. Auch die Frage, ob er CDU-Mitglied sei, bliebt unbeantwortet. Eine NDR-Sprecherin sagte der Berliner Zeitung: „Die Zugehörigkeit zu einer Partei, die Mitgliedschaft in Verbänden und Vereinen sind ein privates, zivilgesellschaftliches Engagement, das der Pflichterfüllung im NDR grundsätzlich nicht entgegensteht. Der NDR fragt Parteizugehörigkeit nicht ab.“

Für den Redaktionsausschuss ist die Sache allerdings nicht erledigt. Ein Sprecher des Ausschusses verwies die Berliner Zeitung auf ein Statement, wonach weitere „Gespräche in Kiel“ geführt würden, um den Fall aufzuklären. Der NDR scheint ebenfalls reagieren zu wollen. Der Landesrundfunkrat Schleswig-Holstein hat eine Sondersitzung für Montag einberufen, in der er sich mit der Thematik befassen wird. Laura Pooth vom  Landesrundfunkrat sagte, der Rat nehme seine „Kontrollaufgabe äußerst ernst“ und versprach „objektive, unabhängige Aufklärung“.

NDR-Belegschaft bricht das Schweigen

Die NDR-Belegschaft will offenbar nicht mehr länger schweigen. Dem Stern erzählten Mitarbeiter, dass Hofberichterstattung im NDR nicht auf Einzelfälle beschränkt gewesen sei: „Auffällig ist, dass ständig die Regierung befragt und gesendet wird. Keine Stimme von der Opposition, keine kritische Stimme von Verbänden“, sagte ein Redaktionsmitglied dem Stern laut Mitteilung des Magazins. Verantwortlich sei dafür in erster Linie die Leitung der Politikredaktion. Unter den befragten Mitarbeitern sei die Rede von „vorauseilendem Gehorsam“, der Angst der Leitungsebene um „ihre gut dotierten Verträge“ und von der gezielten Verhinderung negativer Berichte. So habe der NDR nicht über eine Alkoholfahrt mit Unfallfolgen des einstigen CDU-Parlamentariers Hans-Jörn Arp berichtet. Der NDR bedauert dies heute und spricht gegenüber dem Stern von einem „Versäumnis“.

Auch Interessenskonflikte habe es gegeben: So habe die Leiterin der Politikredaktion, Julia Stein, den Bauerntag in Schleswig-Holstein moderiert. Auf dem Podium saßen neben Verbandsfunktionären wichtige CDU-Politiker, darunter auch der Ministerpräsident. Die Berichterstattung zu der Veranstaltung im Schleswig-Holstein Magazin verantwortete wenige Stunden später Julia Stein. Der NDR sagt, die Redaktionsleiterin hätte an dem Tag freigenommen.

Die Einsicht im Sender hat nach Ansicht der Kritiker noch nicht das Ausmaß erreicht, das notwendig wäre. Ähnlich wie beim RBB entsteht der Eindruck, Fehler werden nur eingeräumt, wenn es nicht mehr anders geht. Piraten-Politiker Breyer: „Es ist bestürzend, mit welcher Hartnäckigkeit die falsche Entscheidung bis zum heutigen Tag verteidigt wird.“ Für Breyer „ist der NDR-Skandal der größere Skandal als die Veruntreuung von Geldern“: „Bei Schlesinger ging es um das Fehlverhalten einer Person. Hier geht es um die politisch motivierte Einflussnahme auf die Berichterstattung.“ Er hoffe, dass der Rundfunkrat seine Verantwortung wahrnimmt. Es sei überfällig, dass Konsequenzen gezogen werden. Der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei gebührenfinanziert und müsse genau deshalb „unabhängig berichten“. Breyer: „Als tendenziöse Propagandaabteilung der Regierung verliert er seine Existenzberechtigung.“