Debatte über Impfungen für Kinder stellt Pandemiepolitik bloß

Vor Impfgipfel: Politiker drängen massiv auf Immunisierung Minderjähriger. Expertenurteil wird übergangen, Kritiker attackiert. Was läuft da schief? Ein Kommentar

Man muss einigen Politikern fast dankbar sein, dass sie vor dem heutigen Impfgipfel von Bund und Ländern eine Debatte um eine Impfkampagne für Kinder zwischen zwölf und 15 Jahren vom Zaun gebrochen haben. Sie haben damit drei der Grundübel der Pandemiepolitik verdeutlicht.

Zum Ersten reklamieren die Befürworter, meist aus den Gesundheits- und Bildungsressorts, für sich, die Impfregeln bestimmen zu können. Sie machen damit den zunehmenden Anspruch auf ein Primat der Politik über die Wissenschaft deutlich, mit allen damit zusammenhängenden ethischen Problemen.

Zum Zweiten üben eben diese politischen Amtsträger unverhohlen Druck auf medizinisch-wissenschaftliche Experten aus, die ihren zunehmend auch durch den Bundestagswahlkampf motivierten Planungen im Wege stehen.

Drittens machen Politiker, die für eine zeitnahe und massenhafte Durchimpfung von Kindern plädieren, deutlich, in welch geringem Maße sie sich von wissenschaftlichen Erkenntnissen zu leiten lassen bereit sind.

Am deutlichsten haben den Führungsanspruch von Parteipolitikern über medizinische Gremien nun niedersächsische Regierungspolitiker gemacht. Nachdem sich Vertreter der Ständigen Impfkommission (Stiko) beim Robert-Koch-Institut ungeachtet eines Urteils der Europäischen Arzneimittelbehörde zunächst gegen eine grundsätzliche Corona-Impfempfehlung für Kinder ab zwölf Jahren ausgesprochen haben, kam aus Hannover umgehend Kritik.

Stiko gibt von jeher Empfehlungen, Länder setzen sie um

Ministerpräsident Stephan Weil und Kultusminister Grant Hendrik Tonne (beide SPD) bezeichneten die Haltung der Stiko als "irritierend" und "verunglückt". Dazu muss man erwähnen, dass die Stiko von jeher die Impfempfehlungen ausspricht, den bundesweit gültigen Impfkalender erstellt und damit auch die Grundrichtung der Impfpolitik der Bundesländer vorgibt.

Dass die Juristen Weil und Tonne nun mit diesem Konsens brechen und die Empfehlungen der Stiko-Mediziner ohne jedes Sachargument übergehen wollen, stellt einen neuen Tabubruch dar, dessen Folgen genau beobachtet werden sollten. Ist das Primat der Wissenschaft in der Gesundheitspolitik erst einmal gebrochen, dürfte es für Lobbyisten der Pharmakonzerne einfacher werden, ihre Ziele an medizinischen Kontrollgremien vorbei durchzusetzen.

Aber noch einmal zum Sozialdemokraten Tonne, der nach einer überschaubaren Karriere als Jurist 2017 in die Berufspolitik wechselte. Am gestrigen Mittwoch hatten die Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland über die ablehnende Haltung der Stiko gegen eine generelle Impfempfehlung für Kinder ab zwölf Jahren berichtet.

Grund sei auch eine unbefriedigende Datenlage, um die Folgen einer Corona-Erkrankung für diese Altersgruppe und mögliche Risiken durch eine Impfung zueinander abwägen zu können, hieß es von dieser Seite. Brachte SPD-Politiker Tonne nun Gegenargumente an, die es in Form erster empirischer Daten der US-Fachbehörde FDA gegeben hätte?

Impfungen für Kinder: Was soll die Wissenschaft leisten?

Mitnichten. Tonne, immerhin Vater von zwei Töchtern im betreffenden Alter, holte zum Generalangriff auf die unliebsamen Impfexperten der Stiko aus, bezeichnete ihr Urteil als "Beitrag zur Verunsicherung" und "das Gegenteil dessen, was Wissenschaft leisten sollte".

Da fragt man sich: Was soll Wissenschaft denn dann leisten? Soll sie Empfehlungen und Beurteilungen auf Basis vorliegender Daten abgeben? Oder soll sie Empfehlungen und Beurteilungen gemäß politischen Vorgaben liefern?

Die Interventionen von Weil, Tonne, aber auch Berlins Regierendem Bürgermeister Michael Müller (SPD), der bei der Impfkampagne für Kinder ebenso Druck macht, verdeutlichen, was in der Pandemiepolitik aus dem Ruder gelaufen ist.

Einige Politiker versuchen ausgerechnet im sensiblen medizinischen Bereich ein etabliertes Kontrollsystem wissenschaftlicher Gremien über politische Entscheidungsträger außer Kraft zu setzen, weil sie sich rasche Erfolge erhoffen oder eigene Verfehlungen zur Verringerung der Infektionsrate in Bildungseinrichtungen kaschieren wollen.

Indem die Befürworter einer raschen und massenhaften Impfkampagne für Kinder die defizitäre Datenlage ignorieren und willfährige Einschätzungen einfordern, gießen sie Wasser auf die Mühlen derjenigen, die allerorts Verschwörung wittern.

Wie schon Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) betonten SPD-Landesminister Tonne und andere Gleichdenkende, es werde keine Impfpflicht geben. Das ist de jure nicht zu bestreiten, de facto aber Augenwischerei. Denn in dem Maße, wie von politischer Seite Impfungen Minderjähriger forciert werden, müssen individuelle oder familiäre Entscheidungen zur Injektion eines (nach bisherigen Standards nicht hinreichend erforschten) Vakzins unter politischem und normativem Druck getroffen werden.

Wie reagiert das Umfeld, wenn ich mein Kind nicht impfen lasse? Wie reagiert die Schule? Darf mein Kind heute mit ins Restaurant, in den Urlaub, ins Konzert? Diese Fragen werden angesichts der zu erwartenden Verstetigung der Pandemie an Gewicht gewinnen. Damit wird auch der Druck zur Impfung steigen, ganz unabhängig von Gesetzen und Verordnungen. Die Aufgabe von Bundes- und Landespolitikern wäre, die Grundlagen für eine freiwillige Teilnahme an den Impfkampagnen zu schaffen. Das Gegenteil ist vor dem heutigen Impfgipfel von Bund und Ländern geschehen.