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Moritz Schularick

Debatte über »Kriegswirtschaft« Wir können die Impfstoffproduktion beschleunigen – wenn wir uns trauen

Moritz Schularick
Ein Gastbeitrag von Moritz Schularick

Deutschlands Impfstoffversäumnis kostet nicht nur viel Geld, sondern auch viele Menschenleben. Doch noch ist es nicht zu spät umzusteuern – wenn der Staat jetzt endlich die Initiative ergreift.

Zum Impfzentrum umgebaute Festhalle in Hessen

Zum Impfzentrum umgebaute Festhalle in Hessen

Foto: Boris Roessler / dpa

Britische Urlauber werden ihr Glück im Sommer kaum fassen können. An den Stränden von Mallorca und Ibiza werden die Liegen in der ersten Reihe auch am späten Vormittag noch frei sein. Weit und breit keine deutschen Handtücher in Sicht.

Denn Deutschland wird zu Hause sein, wenn andere Länder wieder reisen können. Großbritannien will bis zum 14. Juli bereits 75 Prozent der Bevölkerung gegen das Coronavirus geimpft haben und damit Herdenimmunität erreichen. Einem Urlaub im Süden steht dann wahrscheinlich nichts mehr entgegen. Selbst unter optimistischen Annahmen wird es in Deutschland drei Monate länger dauern, bis wir so weit sind. Aber daheim ist es ja sowieso am gemütlichsten.

Allerdings nicht für alle. Denn für die Politik dürfte der Sommer und damit die Hochphase des Bundestagswahlkampfs eher ungemütlich werden. Wenn die Fernsehbilder von feiernden Engländern an leeren Stränden am Mittelmeer in die deutschen Wohnzimmer flimmern, wird das Versagen der Regierung nicht mehr zu leugnen sein.

Mangel an Vorstellungskraft und Handlungswillen

Aber es ist noch nicht zu spät. Wir können das Horrorszenario eines weiteren verlorenen Jahres im Lockdown abwenden. Damit das gelingt, müssen wir schnell das größte Hindernis beseitigen, das uns im Weg steht. Das ist weder ein Mangel an Geld noch an Möglichkeiten, sondern vor allem ein Mangel an Vorstellungskraft und Handlungswillen.

Wie das Kaninchen vor der Schlange blickt die deutsche Politik seit Wochen gebannt auf die Unternehmen, die tröpfchenweise den begehrten Impfstoff liefern. Die Angaben der Hersteller zu Liefermengen und Fristen ändern sich im Wochentakt. Wer genau was wann liefern kann, ist weiter unklar. Mit Abwarten und Abwiegeln will sich Berlin irgendwie über die Ziellinie retten. Diese Untätigkeit kostet uns jeden Monat zehn Milliarden Euro – und vor allem Menschenleben.

Schon vor einem Monat haben wir vorgeschlagen, hohe Prämien für die Produktion und Lieferung von Impfstoff auszuloben, um den Unternehmen einen finanziellen Anreiz zu geben, Kapazitäten auszubauen. Passiert ist nichts, und wertvolle Zeit ist verloren.

Wir kommen jetzt langsam aber sicher an den Punkt, wo finanzielle Anreize allein nicht mehr ausreichen, sondern die Produktion als Notwirtschaft quasi-kriegswirtschaftlich organisiert werden muss. Konkret heißt das, dass die Ressourcen des Landes auf den einen Zweck ausgerichtet werden, schnell mehr Impfstoff zu produzieren. Staatliche Anordnung ersetzt in bestimmten Bereichen vorübergehend den Markt.

Geld löst viele, aber nicht alle Probleme

Natürlich sind Prämien und Anreize im Prinzip die beste Option, denn Geld löst viele Probleme. Aber nicht alle. Komplexe vertragliche Bindungen lassen sich auch mit viel Geld nicht über Nacht auflösen. Nur der Staat kann kurzfristig mit Notstandsgewalt sagen: Ab jetzt wird Impfstoff hergestellt. Wem die Idee einer solchen Kriegswirtschaft zu martialisch klingt, der muss sich die Frage gefallen lassen, wie viel mehr als 50.000 Tote noch nötig sind.

Walther Rathenau brauchte zu Beginn des Ersten Weltkriegs wenige Wochen, um die von wichtigen Rohstoffen abgeschnittene deutsche Wirtschaft auf Kriegsproduktion umzustellen. Damals ging es um die gesamte deutsche Wirtschaft. Heute geht es um 20-Liter-Bioreaktoren, in denen der Wirkstoff für 750 Millionen Biontech-Dosen im Jahr produziert werden kann. Es geht auch um Reagenzien, Reinräume und Mikromischer. Aber all dies sind lösbare Herausforderungen.

Die ermutigende Nachricht ist, dass es Biontech allein innerhalb weniger Wochen gelungen ist, eine zusätzliche Produktionslinie in Marburg aufzubauen. Wenn wir alle Ressourcen der deutschen und europäischen Pharmaindustrie bündeln, schaffen wir es beim nächsten Mal vielleicht noch schneller. Aber wir müssen den Mut aufbringen, und die Herausforderung annehmen.

Enger Horizont der Berliner Politik

Dafür brauchen wir einen Krisenstab mit Weisungsgewalt, in dem die Politik, die Vorstandschef der Pharmaunternehmen und die Wissenschaft vertreten sind. Das Gremium würde entscheiden, welche Produktion kurzfristig am besten skalierbar ist. Konzerne wie Bayer, Merck oder Sanofi würden dann auf staatliche Anweisung den Wirkstoff von Biontech oder auch den von AstraZeneca produzieren, wenn dieser sich leichter in größeren Mengen herstellen lässt. Andere Produktion muss warten. Patente werden benutzt, um in Lizenz zu produzieren. Abgerechnet wird später.

Dies ist keine Misstrauenserklärung an die Adresse von Biontech, AstraZeneca und Co., sondern Realismus. Ein einzelnes Unternehmen hat nicht die Möglichkeit, kurzfristig auf alle volkswirtschaftlichen Ressourcen zuzugreifen. Das kann von heute auf morgen nur der Staat. Es ginge viel mehr, wenn wir uns trauen würden.

Die Kosten des Nichtstuns sind enorm. Mehr Menschen werden sterben, weil der Horizont der Berliner Politik zu eng ist. Was uns davon abhält, den Krieg gegen das Virus zu gewinnen, ist zurzeit vor allem die Mauer in den Berliner Köpfen.