Politik

Irrlichtern im Impfstoffstreit Von der Leyen blamiert die EU

Ursula von der Leyen sieht die Schuld für den Impfstoffmangel in der EU vor allem bei den Pharmafirmen.

Ursula von der Leyen sieht die Schuld für den Impfstoffmangel in der EU vor allem bei den Pharmafirmen.

(Foto: REUTERS)

Um von eigenen Fehlern bei der Impfstoffbeschaffung abzulenken, brüskiert EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen gleich mehrere Partnerstaaten und stellt Pharmafirmen unter Generalverdacht. Der Schaden ist immens - vor allem für Europa.

Kleinlaut rudert Ursula von der Leyen in der Nacht zurück: Es werde keine Kontrollen an der inneririschen Grenze geben. Das sogenannte Nordirland-Protokoll bleibe "unberührt", heißt es aus Brüssel. Bemerkenswert ist, dass es überhaupt angetastet werden sollte - kaum einen Monat nach dem endgültigen Brexit. Jahrelang stritten EU und Großbritannien über die offene Grenze auf der Insel. Sie soll ein Wiederaufflammen des Nordirlandkonflikts verhindern. Nun stand der mühsam verhandelte Konsens wegen des Impfstreits zwischen EU-Kommission und dem britisch-schwedischen Impfstoffhersteller Astrazeneca auf der Kippe; wenn auch nur für ein paar Stunden. Der politische Schaden ist angerichtet. Und von der Leyen ist verantwortlich.

Auf der Suche nach einem Sündenbock für die versemmelte Impfstoffbeschaffung der EU setzt die Kommissionschefin auf maximale Eskalation - doch das löst kein einziges Problem, sondern schafft nur neue. Stichwort: Großbritannien. Nicht der einstige Mitgliedsstaat ist dafür verantwortlich, dass die ersehnten Impfdosen in der EU nur kleckerweise ankommen. Schuld ist vielmehr die EU selbst, die Verträge mit den vielversprechendsten Impfstoffproduzenten zu zögerlich machte oder aus Nationalinteressen auf falsche Pferde setzte. Die Folgen davon sind nun für jedermann sichtbar: Sowohl die Impfstoffe von Sanofi (Frankreich) als auch von Janssen (Belgien) erweisen sich als Enttäuschung. 500 Millionen Dosen davon sicherte sich die EU.

Das Argument aus Brüssel, dass schließlich niemand wissen konnte, welche Impfstoffe zuerst zur Zulassung kommen würden, ist fadenscheinig. Schon im Sommer 2020 machten Biontech und Pfizer mit positiven Studienergebnissen auf sich aufmerksam. Ende Juli sicherten sich die USA die ersten 100 Millionen Impfdosen, Großbritannien immerhin 30 Millionen. Und die EU tat nichts. Erst im November, nicht einmal sechs Wochen vor der Zulassung des Impfstoffs durch die Europäische Arzneimittel-Agentur EMA, bestellte Brüssel 300 Millionen Dosen. Viel zu spät und viel zu wenig. Ähnlich schwer tat man sich beim Liefervertrag mit Moderna, dem zweiten in der EU zugelassenen Impfstoffproduzenten. Erste Chargen wurden Ende November geordert - ebenfalls nur sechs Wochen, bevor die EMA grünes Licht gab.

Wachsweiche EU-Verträge

Wer es gut meint mit der EU-Kommission, der erinnert an die Tatsache, dass alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Denn Gesundheitspolitik ist Sache der Mitgliedsstaaten, und ohne Zugeständnisse - ob bei den Impfstoffkandidaten, beim Geld oder den Verträgen - wäre eine Einigung aller 27 Mitgliedsstaaten auf einen gemeinsamen Beschaffungsplan wohl kaum möglich gewesen. Im globalen Verteilungskampf um die vielversprechendsten Impfstoffe hätten ärmere EU-Länder zwangsläufig den Kürzeren gezogen. Kritiker halten dagegen, dass nun die gesamte EU sprichwörtlich in die Röhre guckt - während Großbritannien von seiner wiedererlangten Unabhängigkeit profitiert. Und sie haben Recht. Das tut weh.

Umso mehr allerdings, weil das Fazit aus Sicht der EU auch ein Schulterzucken hätte sein können - zumindest dann, wenn die Verträge mit den übrigen Impfstofflieferanten wasserdicht gewesen wären. Doch das sind sie nicht. Sowohl im Vertrag mit Curevac, dessen Impfstoff frühestens im zweiten Quartal 2021 erwartet wird, als auch mit Astrazeneca erlauben "Best Efforts"-Klauseln juristischen Interpretationsspielraum. Von der Leyen mag es abstreiten. Aber die Firmen auf feste Lieferquoten festzunageln, wenn im Vertrag nur ihr "bestes Bemühen" eingefordert wird, ist nahezu aussichtslos. Käme es zum Gerichtsprozess, müsste die EU erst einmal nachweisen, dass seitens der Firma gegen die Klausel verstoßen wurde. Wie das gehen soll, ist selbst Juristen schleierhaft.

Impf-Protektionismus à la EU

Mehr zum Thema

Ganz abgesehen davon würde sich ein Prozess womöglich über Jahre hinziehen. Zeit, Geld und Energie, die mitten in der Pandemie besser an anderer Stelle einzusetzen wären. Doch von der Leyen beharrt weiter auf ihrem Standpunkt, gibt sich selbstgewiss - und lässt den Vertrag veröffentlichen. Als hätten die Bürger zu entscheiden, wer im Recht ist. Das ist nicht mehr als ein großer Bluff. Genauso wie die Exportkontrollen. Auf der Suche nach Schuldigen für selbstgeschaffene Probleme verlegt von der Leyen den Kriegsschauplatz von der eigenen Haustür zum abtrünnigen Nachbarn - und riskiert einen zusätzlichen Vertrauensverlust in die EU. Sowohl von außen als auch von innen.

Ihr Versuch, den Spieß umzudrehen und Pharmafirmen unter Druck zu setzen, indem sie "europäische" Impfdosen mit Exporthürden belegt, ist ein kolossaler Fehler - und blamabel für Europa. Immerhin war es die Kommissionschefin selbst, die im Sommer 2020 großspurig von globaler Solidarität bei der Bekämpfung des Virus fabuliert hat. Nun muss sich Brüssel von der WHO öffentlich für seinen Impf-Protektionismus rüffeln lassen. Ein politischer Preis, dem bisher keine einzige zusätzliche Impfdosis gegenübersteht. Von der Leyen vergisst, dass ihr Feind nicht in London oder Cambridge sitzt, sondern überall dort, wo Europäer tagtäglich am Virus erkranken. Mit Rechthaberei und politischem Harakiri ist ihnen nicht geholfen.

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen