«Das alte System ist tot, aber das neue weigert sich, geboren zu werden»

Der knappe Sieg von Joe Biden sei ein Debakel für die Linke in den USA, schlimmer noch als ein Sieg von Donald Trump. Das sagt Yanis Varoufakis, der frühere griechische Finanzminister. Ein düsteres Gespräch über den Aufstieg des Faschismus, das Ende des Kapitalismus und das Chaos, das darauf folgt.

Von Daniel Ryser, Angela Richter (Text) und Salvatore Vinci (Bilder), 14.11.2020

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Vom radikalen Finanzminister zum Abgeordneten der linken Partei MeRA25: Yanis Varoufakis.

Zum ersten Gespräch erscheint er pünktlich, zum zweiten Gespräch kommt er zu spät. «Schwierige Zeiten», entschuldigt er sich. «Unfassbar schwierige Zeiten», sagt er. «Wahnsinn überall.»

Yanis Varoufakis: ehemaliger Finanz­minister Griechenlands. «Der griechische Krieger» betitelte der «New Yorker» im August 2015 ein zehnseitiges Porträt. Untertitel: «Wie sich ein radikaler Finanz­minister mit Europa anlegte – und scheiterte.»

Varoufakis hatte nach seiner Berufung zum Finanz­minister im Januar 2015 in den Verhandlungen mit der Troika rund um die griechische Schulden­krise jegliche weiteren Zugeständnisse betreffend Gehalts- und Renten­kürzungen gegenüber dem EU-Kontroll­gremium ausgeschlossen: Der Internationalist stellte Griechenland an erste Stelle. Im Sommer 2015 sprach eine Mehrheit Varoufakis und der Regierung in einem «bail-out-Referendum» überraschend und überdeutlich das Vertrauen aus. Einen Tag später trat Varoufakis trotzdem von seinem Posten zurück: Zu vergiftet war die Beziehung mit den EU-Spitzenbeamten.

Heute ist Varoufakis Wirtschafts­professor in Athen und sitzt im nationalen Parlament als Teil der von ihm gegründeten linken Partei MeRA25, eines parlamentarischen Flügels der von ihm mitgegründeten Bewegung Democracy in Europe Movement 2025 (DiEM 25). Vor zwei Wochen war er wieder einmal weltweit in den Schlag­zeilen, nachdem er in einem spanischen Gerichtsfall gegen eine Firma ausgesagt hatte, von der Julian Assange ausspioniert wurde. Die beiden Männer verbindet mehr als die australische Staats­bürgerschaft: Varoufakis (er hat die doppelte Staatsbürgerschaft) unterstützt Julian Assange seit vielen Jahren öffentlich und besuchte ihn auch mehrmals in der ecuadorianischen Botschaft in London, in der Assange während sieben Jahren festsass.

Ein paar Monate zuvor war bekannt geworden, dass eine private Spionage­firma namens UC Global mit Sitz in Madrid, die eigentlich für die Sicherheit von Julian Assange zuständig gewesen wäre, im Auftrag der US-Regierung die gesamte Botschaft Ecuadors mit Kameras und Wanzen infiltriert hatte. Alle Gespräche in der Botschaft wurden aufgenommen, die privatesten Dinge, die Gespräche mit den Anwältinnen.

«Die spanische Justiz stellte eine Festplatte dieser Firma sicher, auf der auch Video- und Tonaufzeichnungen meiner Treffen mit Julian gefunden wurden», sagt Varoufakis. «Es zeigte sich auch, dass mein Handy, das ich jeweils am Eingang zur Botschaft dem Sicherheits­personal abgeben musste, von der Firma geknackt und alle Inhalte kopiert wurden, alle meine Mails, alle meine SMS. Meine gesamte Korrespondenz. Eine krasse Verletzung meiner Privat­sphäre und der Europäischen Menschenrechts­konvention. Deswegen trat ich als Zeuge vor Gericht auf.»

Die laufende Klage sei letztlich nur ein Teil eines grösseren Kampfes für Assange, in dem er sich engagiere, sagt Varoufakis, «gegen die Kampagne der US-Regierung gegen einen Mann, der das Verbrechen beging, ihre Kriegs­verbrechen aufzudecken, die in unserem Namen und hinter unserem Rücken begangen wurden».

Die Internetverbindung wackelt. Wir schimpfen über Zoom. Scheiss-Covid-19. Varoufakis in Athen, wir in Berlin und Zürich.

Der Wahnsinn, der Varoufakis vor unserem zweiten Gesprächs­termin aufgehalten hatte: Sonder­sitzung um Sonder­sitzung um Sonder­sitzung im griechischen Parlament.

Ein Land ständig am Rande des Abgrunds.

Wo um die Zukunft des Landes gerungen wird: Das neoklassizistische Parlamentsgebäude in Athen.
Zumindest die Fahnen der EU und von Griechenland sind sich noch nahe.

«Griechenland litt bereits vor Covid-19 wegen der Sparpolitik massiv», sagt Varoufakis. Zum Beispiel: der Abbau von 25’000 Beschäftigten im Gesundheits­wesen. Ärztinnen. Pfleger. Gerade mal noch 700 Betten auf Intensiv­stationen, in einem Land, das eigentlich 10’000 bräuchte. «Wir leben seit zehn Jahren in einer grossen Depression. Die Gesellschaft war bereits auf den Knien. Und jetzt gerade erleben wir den zweiten sehr strikten Lockdown: Tagsüber darf man nur mit Bewilligung aus dem Haus, nachts herrscht komplette Ausgangssperre.»

Griechenland sei heute ein Drittweltland, sagt Varoufakis.

Ausgeblutet.

«Die internationale Presse berichtet nicht darüber», sagt er. «Man liest es nicht, man hört es nicht: Griechenland hat weltweit den grössten Anstieg von Hunger und Elend.»

Was tun?

Das war der eigentliche Grund, warum wir mit ihm hatten sprechen wollen. In seinem neuesten Buch «Another Now» erklärt Varoufakis, wie seine postkapitalistische Utopie aussieht.

Darüber hatten wir sprechen wollen, und über sein Engagement gemeinsam mit Bernie Sanders. In dessen Haus in Vermont hatten die beiden 2018 eine sogenannte Progressive Internationale gegründet, die Antworten formulieren will gegen den Aufstieg des Faschismus überall in der Welt.

Aber kaum reden wir in diesen seltsamen Tagen von Covid-19 und den Wahlen in den USA, über Visionen und Perspektiven und Alternativen, landen wir ein paar Minuten später wieder bei unserer alten Freundin, der Dunkelheit.

1. «Das schlimmst­mögliche Ergebnis»

Joe Biden hat gewonnen. Donald Trump hat verloren. Sind Sie glücklich?
Ich habe vor der Wahl einige Artikel verfasst und Videos aufgenommen, in denen ich mich ausdrücklich für Joe Biden aussprach. Trotzdem ist für mich klar: Dieses Ergebnis ist für linke und grüne Reformen das Schlimmste, was passieren konnte.

Warum?
Die Demokratische Partei hat erneut Bernie Sanders verdrängt und somit daran gehindert, Trump eindeutig zu schlagen. Ich bin davon überzeugt, dass Sanders das gelungen wäre. Anders als vor vier Jahren gab es heute aber ein Einverständnis zwischen den Lagern von Biden und Sanders: Joe Biden wollte zwar auf gar keinen Fall einen Green New Deal, musste dieses Zugeständnis aber machen, wenn er die Unter­stützung der Linken wollte. Sie unterstützte ihn, Alexandria Ocasio-Cortez und ihre Leute machten massiv Wahlkampf für Biden, und die Polls zeigen deutlich, dass Biden ohne die Progressiven nicht Präsident geworden wäre. Aber nun heisst es bereits, schuld am knappen Sieg seien die Linken. Medicare for All müsse zurück­gefahren werden, man müsse jetzt gegenüber den Republikanern eine Appeasement-Politik fahren, um sie zu besänftigen. Die Linke sei schuld, dass man den Senat nicht gewonnen habe. Mit dieser Ausrede befreit man sich von den Abmachungen mit den Progressiven.

Immerhin hat Joe Biden bereits verkündet, dass er das Pariser Klimaabkommen wieder beleben wird.
Ein symbolischer Akt, mehr nicht. Das bestmögliche Ergebnis wäre ein substanzieller Sieg von Joe Biden gewesen. Man hätte ihn auf seine Versprechen verpflichten können, und die Republikaner wären in zwei Lager zerbrochen.

Was wäre denn das zweitbeste Ergebnis gewesen?
Ein Sieg von Trump.

Hören Sie auf.
Ich bin überzeugt, dass das, was jetzt passiert ist, schlimmer ist.

Das müssen Sie erklären. Was hätte schlimmer sein können als vier weitere Jahre Trump-Psychose? Rassisten und faschistische Milizen beispiels­weise, die sich ermutigt fühlen?
Es ist jetzt nicht die Zeit für Wunschdenken, was in der ersten Euphorie unter Biden vielleicht alles möglich sein könnte. Es ist Zeit für Realismus, also lassen Sie mich realistisch sein: Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten wird in den nächsten zwei Jahren wegen Covid-19 abstürzen. Es wird einen erneuten massiven Anstieg von struktureller Arbeits­losigkeit geben, von Deprivation – Industrie­arbeiter und Handwerker werden noch schlimmer dran sein, als sie es in den letzten fünfzehn Jahren sowieso schon waren. Für Schwarze, für Latinos, für alle Menschen am Rand wird es noch viel schwieriger werden, genug Geld zu verdienen, um überhaupt überleben zu können. Biden wird sich mit dem jetzigen Wahlergebnis hinter dem Senat verstecken, er muss weder Anreiz­programme schaffen noch einen Green New Deal oder öffentliche Bauvorhaben. Die Republikaner werden alles killen. Wer wird beschuldigt für den Absturz? Die Linke. Weil sie mit ihrer progressiven Politik angeblich klare Mehrheiten verhindert habe. Es werden vier harte Jahre mit harten Angriffen durch die Medien.

Könnte nicht auch das Gegenteil passieren: Biden realisiert, dass er ohne die Linke politisch nicht überleben kann?
Das Gegenteil ist ja bereits passiert. Im Übergangs­team der Biden-Präsidentschaft finden sich fast ausschliesslich Leute aus dem Partei­establishment. All die Leute aus der Linken, die für extreme Bewegung in der Partei gesorgt haben, die für Biden massiv mobilisiert haben, werden abgekanzelt. Der Druck ist schon jetzt massiv, beispiels­weise auf Alexandria Ocasio-Cortez. Und sie wird sich Fragen des eigenen Lagers gefallen lassen müssen: «Ihr habt uns gesagt, es gibt einen Deal. Ihr habt gesagt, so können wir die bittere Pille schlucken und Biden wählen, der für Big Business steht. Was ist jetzt mit dem Deal?» Der Deal ist vom Tisch. Die Leute fühlen sich verraten, und das wird die Linke schwächen. Im Gegensatz zur Rechten.

Warum soll die Rechte gestärkt aus diesem Chaos hervorgehen?
71 Millionen haben Donald Trump gewählt. 71 Millionen. Ein grosser Teil dieser Leute ist nun davon überzeugt – auch wenn es nicht stimmt –, dass man ihnen die Wahl gestohlen hat. Und das wird diese Leute einen. Sie werden toxischer, radikaler, faschistischer. Noch mehr alt-right. Deshalb wird die radikale Rechte von der kommenden grossen Depression profitieren, und die Linke in den USA wird daran fast zugrunde gehen. Als Folge des knappen Siegs von Joe Biden. Deswegen hätte ich mir statt des jetzigen Ergebnisses eher einen Sieg von Donald Trump gewünscht.

Okay, aber war denn aus linker Sicht die Ausgangs­lage nicht von Anfang an perfid? Cornel West, eine grosse Figur der amerikanischen Linken, sagte im Gespräch mit der Republik, man habe die Wahl zwischen einem «neofaschistischen Gangster» und einem «neoliberalen Desaster». Zwei alte, rechte Männer, die gegeneinander antreten. Konnte da nicht sowieso ein ganz erheblicher Teil der Gesellschaft nur verlieren?
Ein deutlicher Sieg von Joe Biden hätte die Linke auf lange Sicht gestärkt. Und die Republikaner wären auseinandergebrochen.

Das ist doch Wunschdenken. Dass die Republikaner wegen Trump auseinander­brechen, das sagte man doch schon vor vier Jahren.
Es dauerte einfach ein bisschen länger. Aber bei einem deutlichen Ergebnis wäre es mit Sicherheit passiert. Das können Sie in meinen Augen nur schon an der Unter­stützung von George W. Bush für Joe Biden ablesen. Das einzig Gute an Donald Trump ist, dass er ein kompletter Idiot ist. Er schafft es ja nicht einmal, seine eigenen Leute zusammen­zuhalten – er feuert sie ja dauernd. Teilweise per Twitter. Es gab zwei Möglichkeiten, die auf linker Seite viel Bewegung gebracht hätten. Jetzt stecken wir fest.

Das klingt alles ziemlich dunkel, Mister Varoufakis.
Wir stehen in der Pflicht. Wir müssen der Realität ins Auge sehen, wenn wir Dinge zum Guten drehen wollen. 2008 war ich ziemlich lange glücklich, dass Obama gewonnen hatte. Aber heute? Obama ist der Grund, warum wir Trump haben.

2. «Warum die Rettung der Wall Street 2008 den neuen Faschismus entfesselt hat»

«Obama ist der Grund, warum wir Trump haben»: Das ist ein ziemlich harter Satz. Können Sie das ausführen?
Wenn man den heutigen Zustand verstehen will, dann muss man zurückgehen ins Jahr 2008. Das ist der historische Bruch. Der Kollaps der Wall Street, des Finanz­kapitalismus, die Finanzkrise, der darauf folgende bail-out. Der bail-out war Obamas erste Amtshandlung. Er hat die Wall Street laufen lassen, der bail-out war an keinerlei Bedingungen geknüpft. Die US-Zentralbank druckte Billionen von Dollars und gab sie den Banken. Sozialismus für die Banken, harte Sparprogramme für den Rest, bis heute. Das war Obamas Programm. 2008 ist das 1929 unserer Generation. Das ist nicht einfach eine Krise. Es ist ein Epochen­bruch. Eine historische Diskontinuität. Nichts ist danach wie vorher. Der Kapitalismus war nach dem Börsencrash von 1929 und der folgenden Weltwirtschafts­krise nie mehr derselbe. Eine direkte Folge war der Zweite Weltkrieg.

Wollen Sie sagen, wir steuern auf einen Krieg zu?
Was ich sage, ist: Mit dem Bruch von 2008 – Sozialismus für die Banker, Sparprogramme für die Mehrheit – erklärt sich der kontinuierliche Aufstieg einer nationalistischen Internationalen, die unserer Generation entsprungen ist wie der Faschismus den Zwanziger­jahren des letzten Jahrhunderts.

Und jetzt mit Covid-19 – ein weiterer Bruch?
2020 ist ein einschneidendes und bedeutendes Jahr. Aber es ist kein Bruch. Stattdessen ist das, was jetzt passiert, wie ein Turbolader für alles, was seit 2008 passiert ist. Zentral- und National­banken, die Flüsse voller Geld liefern. Unfassbare Gewinne an den Börsen, unfassbare Verringerung der Perspektiven für den Rest. Jetzt wird noch mehr Geld gedruckt, noch mehr Geld für Banker und Financiers, noch mehr Spar­programme für den Rest. Die nationalistische Internationale wird trotz Trumps Niederlage gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.

«Der Kapitalismus geht die Toilette runter, aber die Finanzmärkte schiessen nach oben»: Varoufakis in seinem Büro in Athen.

In einem Ihrer Essays, die Sie dieses Jahr publizierten, steht an einer Stelle ein Satz, der nicht weiter erklärt wird. Aber er bedarf einer Erklärung.
Was meinen Sie?

Sie konstatieren: Am 12. August 2020, am Tag, als bekannt wurde, dass die britische Wirtschaftsleistung um 20 Prozent eingebrochen ist – ein Negativrekord –, schoss die Londoner Börse um 2 Prozent nach oben.
Was ist die Frage?

What the fuck?
Es ist der Ausdruck dieses kaputten Systems. Der Kapitalismus hat sich inzwischen von der Börse entkoppelt. Der Kapitalismus geht die Toilette runter, aber die Finanz­märkte schiessen nach oben. Wir befinden uns in einer Art Postkapitalismus, in dem die Finanz­märkte wie eine Art Feudalismus operieren, komplett losgelöst vom kapitalistischen Prozess von Produktion und Kapital­akkumulation.

Weil die Staaten seit 2008 das Risiko absichern?
Financiers sitzen hinter ihren Schirmen und kaufen und verkaufen Aktien. Sie hören die Neuigkeit, dass der Kapitalismus kollabiert. Normalerweise würden sie verkaufen, denn eine Krise bedeutet Pessimismus, bedeutet sehr tiefe Profite, sehr tiefe Dividenden, bedeutet wenig Geld im Umlauf. Alle verkaufen, und die Börse stürzt ab. In einem funktionierenden Kapitalismus wäre genau das am 12. August 2020 passiert.

Warum ist es nicht passiert?
Weil die Banker dachten: Wunderbar, wir haben gerade 20 Prozent unseres Bruttoinland­produkts vernichtet.

Warum sollten die Banker das denken?
Weil das in der heutigen Zeit bedeutet, dass die Zentralbank – in diesem Fall die Bank of England und die Europäische Zentralbank und das Federal Reserve – Unmengen neues Geld in die Wirtschaft pumpt. Was tun Händler mit der Aussicht auf Schiffs­ladungen voller Geld? Sie rufen ihre Kunden an und fragen sie, ob sie ein Stück vom Kuchen wollen. Diese Kredite werden mit Negativ­zinsen vergeben. Gratisgeld. Die Wirtschaft flutscht dahin, aber die Börsen schiessen nach oben. Die Entwicklung ist verheerend. Sozialismus für die Banker, für den Rest wird es wegen der Sparprogramme immer dramatischer: Verlust von Einkommen, Perspektiven, Haus, Job, tiefere Löhne. Die Menschen geben weniger Geld aus. Firmen, die Güter produzieren, um sie diesen Leuten zu verkaufen, reduzieren ihr Investment. Die Folge ist ein negativer Multiplikations­effekt. Investments werden reduziert, gute Jobs gehen verloren. Stattdessen blühen Deliveroo-Jobs und Uber-Jobs, prekäre Jobs, Scheissjobs. Keine nachhaltigen Jobs. Keine high-quality-Jobs. Keine grünen Jobs.

Stopp, stopp, stopp. Was bedeutet das?
Die Financiers erhalten viel frisch gedrucktes Geld. Sie schauen auf die kleinen Leute: Soll ich nun mit all dem Geld eine neue Produktions­stätte bauen? Beispielsweise, um neue Elektroautos zu bauen und dann für 50’000 Euro zu verkaufen und die Diesel-Linie zu zersetzen? Sie schauen auf die Leute in Deutschland, die Leute in Griechenland und sagen: «Nein, da verschiebt sich gerade zu viel. Die Leute werden nicht genug Geld haben, um das zu kaufen.» Was also tun die Financiers mit dem Geld, gedruckt von der Zentralbank, das sie gratis bekommen haben?

Sagen Sie es uns.
Sie investieren es nicht in die Produktion. Sie gehen stattdessen mit dem Geld an die Frankfurter Börse und kaufen Anteile ihrer Firma. Damit steigen der Aktienpreis, zum Beispiel von Volkswagen, und die Löhne der Volkswagen-Manager, der Direktoren, die an diesen Aktienkurs gekoppelt sind. Und deshalb kriegen sie Boni, ohne überhaupt in die Produktion investiert zu haben. In die Nachhaltigkeit. Flutsch. Mit dem Boni-Geld gehen sie nach Berlin. Kaufen sich Wohnungen. Die Wohnungen rundherum steigen im Preis. Die Mieten gehen hoch. Die kleinen Leute rundherum, die sich wegen der Krise immer weniger leisten können, werden sauer. Und ihre Pensions­kassen leiden wegen der Nullzinsen. Der Lebens­standard sinkt. Die Leute werden wütend. Wenden sich gegen Merkel. Wenden sich hin zur AfD. In den USA hin zu Trump. Weshalb Merkel oder die Liberaldemokraten in den USA sich selbst nach rechts wenden, um diese Leute wieder abzuholen. Das ist der Kreislauf. Er ist toxisch. Er ist der Grund, warum die Rettung der Wall Street 2008 den neuen Faschismus entfesselt hat.

3. «Im Chaos und in der grossen Unsicherheit kann alles passieren»

Das klingt, als würde derzeit jede Entwicklung am Schluss immer den schlimmst­möglichen Verlauf nehmen.
Antonio Gramsci hat mit Blick auf die 1930er-Jahre gesagt, das Problem jener Generation sei es gewesen, dass das Alte gestorben sei, aber das Neue sich geweigert habe, geboren zu werden. In diesem Inter­regnum, wo das System kollabiert ist, aber ein neues System noch nicht geboren wurde, herrscht Chaos und grosse Unsicherheit, und deshalb kann in dieser Zeit alles passieren. Die Dreissiger­jahre schufen den Boden für die grosse Tragödie des Zweiten Weltkriegs. Jener Krieg fiel exakt in die Zeit des Interregnums zwischen dem Kollaps von 1929 und der Periode der Stabilität und des steten Wirtschafts­wachstums, die nach 1945 folgte. Dazwischen: Krieg und Chaos. Und in einem solchen Dazwischen befinden wir uns heute. Zwischen dem, was 2008 mit der Finanz­krise gestorben ist, und dem, was noch geboren werden muss. Das Alte ist tot, aber das Neue ist noch nicht geboren. Alles ist möglich.

Ist es auch möglich, dass die Linke in diesem System letztlich pulverisiert wird? Am Ende bleibt nur die Wahl zwischen Biden und Trump? Macron und Le Pen? Merkel und der AfD?
Ich sage nicht, dass die Linke pulverisiert wird. Aber je schwächer die Linke ist, desto stärker wird ihre Opposition, das radikale Zentrum und die Faschisten. Denn auch wenn diese beiden Strömungen eigentlich selbst zueinander in Opposition stehen, so besteht eine der vielen Tragödien darin, dass sie sich gegenseitig brauchen.

Inwiefern?
Macron und Le Pen beispielsweise: Ich habe keine Zweifel, dass die beiden sich hassen. Und trotzdem wäre Macron ohne Le Pen nicht Präsident. Und ohne Macrons brutale Sparpolitik wiederum gäbe es die grosse Unzufriedenheit nicht, mit der Le Pen gefüttert wird. Der Brexit in Gross­britannien war nicht erfolgreich, weil man auf der Insel plötzlich euroskeptischer wurde. Der Brexit war erfolgreich wegen der massiven Unzufriedenheit der Menschen in Nordengland und in den Küsten­städten nach so vielen Jahren Sparpolitik, nach Jahren des Ausgeblutet­werdens, während das Finanz­system immer reicher wurde. Deshalb stellte sich eine simple Frage: «Wie können wir eins sein, wenn man uns vergessen hat?»

In Ihrem Buch «Another Now» schreiben Sie: Wenn die Kathedralen das Vermächtnis der Architektur des Mittelalters waren, dann werden die 2020er-Jahre in Erinnerung bleiben als das Zeitalter elektrifizierter Zäune und von Schwärmen brummender Drohnen. Sie schreiben, Finanzwesen und Nationalismus werden die eindeutigen Gewinner dieses Jahrzehnts gewesen sein: «Die grosse Stärke der neuen Faschisten wird es gewesen sein, anders als ihre Vorläufer hundert Jahre zuvor, dass sie weder schwarze noch braune Hemden brauchten oder Teil einer Regierung werden mussten, um ihr Programm durchzusetzen.»
Die Faschisten haben die politische Agenda komplett verändert. Es handelt sich um eine völlig neue Bewegung, wie man ja auch in der Schweiz erkennen kann. Eine Bewegung von Leuten, deren Programm die Diskriminierung von Ausländern ist. Eine Bewegung, welche die Grenzen wieder hochziehen und sie elektrisch aufladen will. In Griechenland beispiels­weise sind wir seit Jahren mit einer Nazi-Organisation konfrontiert, einer Nazi-Partei. Glücklicherweise sitzen ihre Anführer inzwischen hinter Gittern, aber unglücklicher­weise hat ihre Ideologie längst die Regierung erreicht. Jetzt, während wir reden, zwingt die griechische Küstenwache Boote voller Flüchtlinge, umzukehren Richtung Türkei mit dem grossen Risiko, diese Leute dabei im Meer zu ertränken. Eine unfassbare und krasse Verletzung der Uno-Flüchtlings­konvention. Die Methoden und Ideen der Faschisten werden übernommen von Mitte-rechts und manchmal auch von Mitte-links. Wozu müssen sie dann noch in die Regierung, wenn ihre Politik schon von anderen praktiziert wird?

Zur Co-Autorin

Angela Richter ist eine kroatisch-deutsche Theater­regisseurin und Autorin aus Berlin. Sie engagiert sich für den in London in Auslieferungs­haft sitzenden Journalisten Julian Assange. Richter publiziert regelmässig Texte für «Die Welt» und «Der Freitag».

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